Ausstellung Institution Kunst Halle Sankt Gallen
Die Kunst Halle Sankt Gallen präsentiert die erste Ausstellung der Mexikanerin Mariana Castillo Deball (*1975) in der Schweiz. Die Künstlerin kartiert mit ihren Arbeiten die Handlungs- und Erinnerungsräume und Objektwelten des Menschen, welche immer einen ganz konkreten historischen und kulturellen Kontext vorweisen. Für ihre Recherche sucht die Künstlerin Institutionen der Sammlung, Ordnung, Katalogisierung und (Re-)Präsentation kultureller Güter auf, wie zum Beispiel Bibliotheken, Museen, Archive, die eine symbolische Ordnung der Welt repräsentieren. Nach der Phase der Informationssammlung und Selektion entstehen oft räumlich bezogene Installationen, Objekte, Fotografien, Audio- und Video-Arbeiten, die eine fiktionale Rahmenhandlung vorweisen. Castillo Deball verwendet bewusst wissenschaftliche Methoden wie das Sammeln, Sichten und Selektieren, aber auch das theoretische Schreiben. Hierfür findet sie eine mediale Übersetzung und überprüft dabei kritisch die Konventionen und Standards der musealen Präsentation sowie des Archivwesens. Thematisch reicht das Spektrum der visuellen und narrativen Untersuchungen in verschiedenste Felder wie Archäologie, Anarchismus, Ethnologie, Musealisierung, Präsentationskonventionen in Museen, Philosophie und Technikgeschichte. Neben dieser Herangehensweise zeigt die Künstlerin ein besonderes Interesse an der Kollaboration mit anderen Kulturproduzenten. Dabei führt sie das Ergebnis in Form von performativen Events, Buchprojekten oder Installationen zusammen.
In den letzten Jahren beruht Castillo Deballs Arbeitsweise auf einem kaleidoskopischen Zugang zur Sprache: verschiedene Disziplinen und Arten, die Welt zu beschreiben, können aufeinanderprallen, und generieren dabei eine polyphone Stimme. Ausgehend von der Idee des Kaleidoskops hat Castillo Deball für die Kunst Halle Sankt Gallen ein Projekt entwickelt, in dem sie ihr zentrales Thema der Archivierung - in unserer informationsüberfluteten Welt von grösster Aktualität - ortsspezifisch für die Gallusstadt künstlerisch umsetzt. Dabei verbindet es das enzyklopädische Materialarchiv des Sitterwerks, die Textilgeschichte der Stadt und die Kunst Halle miteinander. Bei der Arbeit mit Archiven geht es der Künstlerin darum, deren Ordnung zu verändern, auszulöschen oder umzukehren, um ihnen so eine neue Leseart zu geben. Sie möchte in solch geordneten Räumen den Beweis erbringen, dass wir keinen Sinn in der Welt finden, ohne hemmungslos und verspielt zu sein. In der Ausstellung – wie auch generell in ihrer Praxis – besteht stets eine Spannung zwischen Ordnung und Zufall, insbesondere wenn diese zusammenwirken.
Ausgangspunkt der Serie Falschgesichter (2008) aus gefaltetem Papier ist eine Publikation über exotische Masken, deren Darstellungen Deball verfremdet hat: die Gesichtsstrukturen ersetzte sie durch Faltungen und das Bild der Maske löschte sie. Als einziger Verweis auf die Gesichter bleiben die abstrakte Faltung und die ethnographische Beschreibung am unteren Bildrand. Deball schafft so Projektionsflächen und spielt damit auf jene Praktiken an, bei denen ethnographische Objekte für alle möglichen Phantasien – nationalistische, imperialistische, romantische oder rationale – verwendet werden. In einer Vitrine – ein Verweis auf deren Kostbarkeit – ist das sogenannte Marvel-Buch, eine Sammlung mannigfaltiger Stoffe ausgestellt, deren Farbigkeit und Muster als Inspirationsquelle für die Künstlerin dienen. Zum einen zeigt Deball damit eine Möglichkeit auf, wie Dinge geordnet und zusammengestellt werden können. Im Gegensatz zu den geometrischen Mustern, die sie in den Falschgesichtern thematisiert, präsentiert sie hier organische, gar barocke. Unzählige Schichten von Stoffen sind übereinandergelegt, an ein Kaleidoskop erinnernd. Sowohl bei den Falschgesichtern als auch im Marvel-Buch geht es um den Verlust von Referenzen: bei den Masken, weil es zu viele Informationen gibt, bei den Stoffmustern, weil es zu wenige sind.
Im Video Entropology (2008) wird uns auf der Textebene die Geschichte einer passionierten Mineralogin erzählt, die in einem Materialtestlabor Steine kreiert, die in der Natur nicht vorkommen. Die Bildebene umfasst neben Fotografien, die in den 50er Jahren im CERN entstanden sind, Querschnitte verschiedenster Arten von Steinen. Sie und ihre Arbeitskollegen tauschen Ideen zu einer schreibenden Maschine aus; während die einen die Vorstellung eines Geräts haben, das all die streng gehüteten Attribute unseres psychologischen Lebens niederschreibt, denkt die Mineralogin an eine Maschine, die der Produktion von Ordnung dient. Das Gespräch geht weiter der Frage nach, worin der Unterschied zwischen Mensch und Natur liegt, wenn jener versucht, sie lediglich zu imitieren.
Do ut des (2008/9) ist eine Sammlung von Büchern über Museen dieser Welt, in denen die Grössenverhältnisse bekannter Gemälde und ihren Betrachtern aufgezeigt werden. Wie auch in der Ausstellungsarchitektur wird hier mit Verhältnissen und Grössen gespielt. Deball hat in die Bücher immer kleiner werdende Löcher geschnitten, die sich wie Würmer durch diese bohren, und in ihrer Form wiederum an die Steine in Entropology und die Muster des Marvel-Buchs erinnern. Die „Tunnel“ können als Pfade verstanden werden, die sich Menschen bahnen, wenn sie sich Kunstwerke ansehen: jeder Zugang ist ein anderer, abhängig vom Vorwissen und den Einstellungen des Betrachters.
Die Ausstellungsarchitektur stellt einen elementaren Bestandteil des Projekts dar und muss als eigenständige Installation begriffen werden. Der Raum erfährt eine Einteilung, wird geordnet, verliert aber gleichzeitig aufgrund der labyrinthartigen Struktur seiner einzelnen Elemente an Übersichtlichkeit. Ein Ausschnitt der Gesamtarchitektur ist als Skulptur im ersten Raum der Kunst Halle platziert.
Deballs Film Nobody was Tomorrow (2007) handelt von einer Alterungsbeschleunigungsmaschine in Belgrad. Nachdem die Künstlerin von deren Existenz erfahren hatte, reiste sie nach Belgrad. Tatsächlich befand sich Nobody noch im Labor der Nationalbibliothek, war aber seit 30 Jahren nicht mehr in Gebrauch. Politische und ökonomische Umstände hatten das Untersuchungslabor zu Fall gebracht – übrig geblieben war eine Ansammlung nutzloser Gegenstände. In Deballs Film erzählt die Maschine vom Vergehen der Zeit und unserem Verhältnis zur Technologie. Selbst wenn die Leute, die nach wie vor im Untersuchungslabor arbeiten, glauben, dass die Maschine nicht mehr funktioniert, so führt diese doch weiterhin geheimnisvolle Experimente durch. So wuchert ein riesiger Feigenbaum im modernistischen Kulturhaus in Cacak in Serbien, das auf dem Gelände archäologischer Reste eines römischen Bades entstanden ist. Er wächst durch Decken und Wände, wie ein Parasit wandelt er die funktionale Architektur des Gebäudes um.
Der innerste Teil der Ausstellung zeigt Werke, die bei den Recherchen in der Kunstgiesserei des Sitterwerks entstanden sind. Stumbling Stones (2009) besteht aus Überresten, die vom Prozess des Metallschmelzens bei der Herstellung von Skulpturen entstanden sind. Es handelt sich um zufällige Kunstobjekte, die ihren Wert erst durch die Auswahl der Künstlerin erlangen. Auch die Rolle der Natur als Maschine wird hier wieder angesprochen. Das Sitterwerk interessierte Deball aber nicht nur als Ort der künstlerischen Produktion, sondern auch als eine Art Datenbank von Materialien und Ordnungsmöglichkeiten für Dinge, wie auch als Ort des Experimentierens und des Recherchierens in der umfangreichen Bibliothek. Teile des Films Entropology II (2009) sind dort entstanden. In diesem kombiniert Deball Aufnahmen, die im Sitterwerk entstanden sind mit Teilen von Entropology, den Falschgesichtern und der Geschichte eines Mannes, der sich unwissentlich selbst isst. Eine Schublade aus dem Sitterwerk, mit der sie erneut mit Ordnungsmöglichkeiten spielt und das von der Struktur der Ausstellung ausgeht, sowie eine Stoffrolle aus St. Gallen sind in die immer enger werdende Ausstellungsarchitektur eingebettet.
Ein Künstlerbuch mit Texten von Mariana Castillo Deball und Dario Gamboni, Professor für Kunstgeschichte der Universität Genf, begleitet die Ausstellung.
Mit «Things to Say» zeigt die Kunst Halle neben der Ausstellung von Mariana Castillo Deball eine grosszügige Präsentation des Duos Jürg Lehni & Alex Rich, das sich auf spielerische Weise mit der Entwicklung von Drucktechnologien, den Schnittstellen zwischen Maschine und Nutzer sowie der Vermittlung von Information beschäftigt. Sie thematisieren das unerschlossene Potential alltäglicher Technologien und deren Fähigkeit, von Designern und Ingenieuren nicht vorgesehene Funktionen zu erfüllen. Die Ausstellung ist eine Weiterentwicklung ihres 2008 am Institute of Contemporary Arts in London realisierten Projekts A Recent History of Writing.
In zwei Räumen der Kunst Halle präsentieren Lehni & Rich zeichnende, sprayende und stanzende Maschinen, die sie als Kommunikations- und Gestaltungswerkzeuge verwenden und die teilweise auch von den Besuchern benutzt werden können. Dabei sind nicht nur die von den Geräten produzierten Kunstwerke Ausstellungsobjekte, sondern auch die Apparate selbst. Wichtig war den Künstlern bei der Vorbereitung des Projekts das Arbeiten vor Ort. So verzichteten sie weitgehend auf Transporte und führten die Beschaffung der Maschinen sowie die Produktion der Zeichnungen und Plakate wie auch der Möbel möglichst lokal durch.
In die Plakate an den Wänden des zweiten Raums der Kunst Halle hat Empty Words (2008/9) Titel von Liedern gestanzt, die so eine Art persönlichen Soundtrack der Künstler bilden. Der Besucher hat die Möglichkeit, selbst Plakate mit eigenen Worten herzustellen und diese mit nach Hause zu nehmen. Der Wunsch der Künstler ist, dass die Titel der Lieder als Inspiration, als Ausgangspunkt für Assoziationen dienen und Ideen für die selbsterdachten Plakate liefern. Einerseits sind Empty Words wie auch News von einer gewissen Offenheit geprägt, indem man selbst gestalterisch tätig sein kann; andererseits besteht aber auch eine klare Beschränkung: durch den Umfang der Zeichen und eine zumindest suggerierte inhaltliche Richtungsvorgabe bei Empty Words bzw. durch drei bereits vorgegebene Schlagzeilen bei News.
Mit Wood Work (2009) entsteht im dritten Ausstellungsraum eine kleine, besondere Druckerei: eine Spezialfräse stanzt Löcher in eine Holzplatte, die anschliessend als Druckvorlage benutzt werden kann. Die von Lehni und Rich für die Kunst Halle hergestellten farbigen Plakate zeigen Worte im Cockney Rhyming Slang, der ursprünglich vermutlich eine Geheimsprache von Strassenverkäufern oder eine Gaunersprache war, und heutzutage als Wortspielerei im englischen Sprachraum verbreitet ist. Dabei wird das Wort, das man ausdrücken möchte, durch einen mehrteiligen Ausdruck ersetzt, welcher sich auf dieses reimt. Häufig wird nur der erste Teil des Reimbegriffs verwendet, was das Verständnis für nicht Eingeweihte verunmöglicht. (Erläuterungen der Bedeutungen der von Wood Work auf die Plakate gedruckten Worte im Cockney Rhyming Slang befinden sich im Ausstellungsraum.) Während der Schülerworkshops können die Kinder und Jugendlichen selbst Plakate gestalten und diese mitnehmen. Auch bei dieser Arbeit sollen die Reime Anstoss für eigene Wortspiele sein und Gedanken über den Umgang mit Sprache anregen.
Hektor wurde 2002 von Lehni in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Uli Franke entwickelt. Er sprayt, die Hand des Künstlers imitierend, in wackeliger Manier Graffiti. Sein Motiv für die Kunst Halle ist eine weltweit bekannte Figur: in Amerika ist sie unter dem Namen „Kilroy“ bekannt und wurde bereits während des zweiten Weltkriegs verwendet, um Präsenz zu markieren („Kilroy was here“). In England nennt man die Figur „Chad“. Sie trat in Zeiten der Rationierung in Folge des Kriegs ebenfalls in Verbindung mit Text auf („What, no bread?“). Lehni & Rich lassen Hektor lediglich die Zeichnung sprayen und verzichten bewusst auf eine textliche Ebene. Sie verweisen damit nicht nur auf etwas Fehlendes, sondern schaffen ausserdem einen Kontrast zu den anderen Maschinen, die ausschliesslich mit Text und Sprache arbeiten.
Der Besucher ist auf verschiedene Weisen an der Ausstellung beteiligt: während er bei News und Empty Words mit gewissen Einschränkungen selbst gestalten und produzieren kann, nimmt er bei Hektor wie auch bei Viktor eine betrachtende Rolle ein: dieser zeichnet mit Kreide eine Serie von Dialogen auf eine schwarze Wand des Ausstellungsraums – eine Referenz an Corbusier, der in seinem Atelier eine Wandtafel für die Entwicklung seiner Ideen verwendete – und rundet so das Projekt auf eine spektakuläre Art und Weise ab. Mit dem Werk News (2008/9) laden Lehni & Rich die Besucher ein, aktiv zu sein und mit den Handdruckern täglich wechselnde Schlagzeilen auf Postkarten zu drucken, welche sie dann in die Welt schicken können.
Viktor und seine Geschwister sind Maschinen, aber gleichzeitig auch Aussagen über das heutige Desktop-Publishing-Design mit seinen Standards und Softwares, die einen grossen Einfluss auf die Ästhetik unseres Alltags haben. Sie können auch als Aufruf gelesen werden, die Einschränkungen und vorgegebenen Funktionsabläufe und Technologien nicht einfach zu akzeptieren, sondern sich die eigenen Werkzeuge wieder anzueignen und neue zu erfinden.
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