Ausstellung Galerie Galerie Karsten Greve
Die Galerie Karsten Greve freut sich, neue Fotografien von Robert Polidori in einer umfassenden Einzelpräsentation zu zeigen, die mehrere Werkgruppen in Bezug zueinander setzt. Erstmals werden in der Ausstellung Exteriors and Interiors Motive aus den Serien Hotel Petra und Dendritic Cities gezeigt, die der 1951 in Montréal, Kanada geborene Fotograf zwischen 2008 und 2011 aufgenommen hat. Polidoris Ansichten von Außenräumen und Innenräumen aus dem städtischen Zusammenhang wirken wie Portraits, die zeitlich bedingte Veränderungen im gegenwärtigen Erscheinungsbild sichtbar machen.
Hotel Petra besteht aus Innenansichten eines Gebäudes, das durch gewaltsame Einwirkungen und Verwitterung gezeichnet erscheint. Polidori hat in Beirut das neben dem ehrwürdigen Grand Théatre de Beyrouth gelegene Hotel Petra aufgesucht, das nach den Zerstörungen des libanesischen Bürgerkriegs nahezu 25 Jahre lang abgeriegelt blieb. Von menschlichen Eingriffen verschont, ist es dem „natürlichen“ Verfall überlassen gewesen. Die Wände sind mit zahlreichen Farbschichten bedeckt, die im Laufe der Zeit abgeblättert und verblasst sind, so dass zugrundeliegende Farbtöne in changierenden Intensitäten zum Vorschein kommen. Diese altersbedingten Auflösungsprozesse ergeben ein breites Spektrum an Nuancen: „Die Blau-, Gelb- und Orangetöne und der wahnsinnige Farbumfang haben mir sofort gefallen. Die Szene ist wie eine Studie über das Sichauflösen und Überlagern von Farbe.“ (Polidori) Polidori betont jedoch nicht nur die malerische Qualität dieser Wände, sondern vielmehr den geschichtlichen Aspekt, der dieser „natürlichen Malerei“ innewohnt. Er bezeichnet diese rein durch zeitliche Einwirkungen entstandenen Abstraktionen als „Archäologie der Malerei“: „Wände sind das Trägermaterial, auf dem Zeit sichtbar wird.“ (Polidori)
So sind in diesen Momentaufnahmen die Zeit (und ihre Auswirkungen) verdichtet, der von Polidori eingefangene Zustand wird zur historischen Manifestation. In der Chromatik farblicher Abstufungen offenbart sich – einem Palimpsest vergleichbar – die Chronologie geschichtlicher Ereignisse. Die charakteristischen Oberflächenstrukturen des Gebäudes, dessen verwundete Schönheit der einheimischen Bevölkerung als Sinnbild der schmerzhaften Erfahrung des Krieges dient, lassen sich nicht nur als individuelles Portrait, sondern auch als Mahnmal, als Wahrzeichen kollektiver Erinnerung begreifen. Obwohl er die Poesie abgetragener, verwaschener Farbqualitäten anerkennt, ist Polidori kein Anhänger einer ästhetisierenden Ruinenromantik. Stattdessen folgt er seinem realitätsnahen, fast dokumentarischen Bedürfnis, das „Gedächtnis der Gemäuer“ mit seiner Kamera zu erfassen und damit ausgehend vom Sichtbaren das erweiterte Augenmerk auf die verborgenen Hintergründe zu lenken: „um ein vollständiges Bild des Geschehens zu erhalten“. Da für Polidori oberflächliche Merkmale immer Indikatoren tiefgreifender Strukturen darstellen, sind die von ihm abgebildeten Situationen Zeugnisse einschneidender sozialer, historischer und politischer Veränderungen, die sich in einer einzigartigen äußeren Form niedergeschlagen haben. In der Ausstellung wird durch die Gegenüberstellung der malerischen Wandflächen des Hotel Petra mit den Nahaufnahmen alternder Gemälde aus Schloss Versailles (aus der Reihe Parcours Muséologique Revisité) deutlich, dass Polidori in seiner sorgfältigen Beobachtung vorgefundener Zustände die Insignien der Vergänglichkeit hervorhebt.
„Mich interessieren die Spuren der Zeit in einem Raum, einem Gebäude oder einer Stadt.“ (Polidori) Diesen Spuren der Zeit geht Polidori auch in seinen Panoramen der Serie Dendritic Cities nach. Hier befasst er sich mit dem Phänomen des wuchernden Wachstums sogenannter `cités sauvages´, deren unkontrollierte Ausbreitung vor allem in den Außenbezirken moderner Großstädte keiner urbanistischen Planung folgt, sondern aus unmittelbaren gesellschaftlichen Gegebenheiten resultiert.
Ob es sich um einen Slum in Indien oder eine Favela in Brasilien handelt: stets ziehen Polidori solche Städte an, die „plötzlich auftauchen und nach 50 Jahren wieder verschwinden. Es sind temporäre Strukturen, die aus einer Notwendigkeit heraus erwachsen sind.“
Eines dieser Szenarien des Wandels, in denen eine zeitliche Entwicklung ablesbar wird, ist der indische Slum Dharavi. Ursprünglich am Stadtrand von Indiens Megalopolis Mumbai gelegen, wurde er bald von der Stadt umwachsen, so dass er heute – unüblich für einen Slum – mitten in der Stadt liegt. Um den akuten Platzmangel zu umgehen, werden durch Abriss und improvisierten Aufbau neue Wohnmöglichkeiten geschaffen für den ständigen Zustrom an Menschen. Ähnlich wie die Farbschichten auf den Wänden des Hotel Petra sind hier die Hütten übereinandergestapelt, aufgetürmt und ergeben ein unübersichtliches Gewirr aus ein- und zweistöckigen Gebäuden. Der schnelle Wandel des Stadtbildes zeichnet sich auch in den Ansichten von Ammann, Jordanien ab. Hier sind beinahe alle Gebäude nach 1991 entstanden, als die Stadt in der Folge des Irak-Konflikts und der Vertreibung der Palästinenser aus Kuwait verstärkt Flüchtlinge aufgenommen hat, wodurch die Errichtung von Unterkünften notdürftig vorgenommen wurde.
Im Unterschied zu seinen Innenansichten, die mit einer langen Belichtungszeit aufgenommen werden, entstehen diese Arbeiten aus vielen einzelnen, kurz belichteten Aufnahmen einer vorgefundenen Situation, die er zu einem vielschichtigen, äußerst dichten Motiv zusammensetzt, dessen unregelmäßig verlaufende Kontur als formale Entsprechung der ungeregelten, zügellosen Ausbreitung gesehen werden kann. Die neue Komposition enthält somit Einzelheiten, die nicht einer einzigen, sondern multiplen Perspektiven entstammen. Polidori gesteht nicht dem einen entscheidenden Moment sondern mehreren „entscheidenden Momenten“ (Polidori) den gleichen Wert zu, so dass sie simultan im Bild koexistieren. Mit dieser Vorgehensweise kommentiert er zugleich die Geschichtsschreibung, die durch Prozesse der Überlagerung und Verdrängung bestimmte Auffassungen des Gewesenen durchsetzt bzw. durch andere ersetzt und die Pluralität zugunsten einer singulären Sichtweise aufhebt. Auch übertragen auf das persönliche Erleben, wird der Vorgang der Erinnerung zur permanenten Umschichtung und Neuordnung von Erfahrungswerten.
Robert Polidori übersiedelte in den siebziger Jahren von seinem Geburtsland Kanada nach New York, wo er zunächst für Jonas Mekas am Anthology Film Archiv arbeitete. 1980 erlangte er seinen Master an der State University of New York. 1998 wurde ihm der World Press Award für seine Dokumentation zum Bau des Getty Museums verliehen. Bereits zweimal wurde er mit dem Alfred Eisenstaedt Award für Magazinfotografie ausgezeichnet (1999 und 2000). 2007 und 2008 erhielt er den Communication Arts Award. Die Arbeiten Polidoris befinden sich unter anderem in der Sammlung des Metropolitan Museum of Art und im Museum of Modern Art, New York, sowie im Victoria and Albert Museum in London und in der Bibliothèque Nationale in Paris. Besondere Anerkennung erlangte Robert Polidori nicht nur durch seine langjährige Tätigkeit für das Magazin The New Yorker, sondern auch durch beeindruckende Projekte wie seine Langzeitdokumentation der Renovierung des Château de Versailles ab Mitte der 1980er Jahre, die mehrfach prämiert wurde. Zu seinem fotografischen Werk sind zahlreiche Kunstbände erschienen, zuletzt Eye and I mit beeindruckenden Menschenbildern. Robert Polidori lebt und arbeitet in Los Angeles.
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